Der Bericht der etwas anderen Art
Eindrücke über das Leben in El Salvador - Von Elisabeth Bentrup
(Mir war es wichtig, diese Eindrücke fest zu halten.
Sie geben ein wenig Einblick in den Alltag unserer Partner, Freunde, Eltern und Kinder in El Salvador.)
In den Tagen meines Aufenthaltes in El Salvador ist mir oft das Wort „Lebensqualität“ in den Sinn gekommen: Wie viel wertvolle Zeit geht verloren, wenn man jeden Tag mindestens drei Stunden im Auto sitzt, für nur 35 km Wegstrecke von der Wohnung zum Arbeitsplatz und zurück?
Wie beeinträchtigt der Klimawandel das tägliche Leben?
Wie leben die Menschen in dem Land, das zeit zwei Jahren von dem „Coolsten Diktator“ der Welt (Aussage von Präsident Bukele selbst) geführt wird?
Wie lebt man in auseinander gerissenen Familien, welche Träume hat man?
Hier ein paar Eindrücke dazu, die vielleicht noch ein tieferes Verständnis in den Alltag ermöglichen:
Der Klimawandel
Ich habe keinen direkten Vergleich zu anderen Wochen im Sommer (dies war mein 6. Besuch im Sommer); für mich war es immer sehr heiß und schwül, die Regenfälle extrem stark und die Gewitter heftig,
Die Leute sagten aber, dass die Überschwemmungen deutlich zugenommen hätten.
Die Mandarinen, die jeden Morgen auf dem Boden lagen, waren trocken ohne Saft. Isabel sagte:
„Die Hitze!“
Avocados fielen auf die Erde; sie waren viel kleiner als sonst: Das fehlende Wasser.
Für Juni seien die Regenfälle aber extrem stark und die Dürreperioden nähmen zu.
Es werden ständig neue Viertel am Rande der Hauptstadt gebaut: Siedlungen mit kleinen Einfamilienhäuser: ohne Grünflächen, die Flächen werden zubetoniert und breite Straßen für den Autoverkehr angelegt. Und die Menschen stöhnen unter der Hitze.
Die Verkehrssituation
Situation auf dem Weg vom Wohnort von Frau Depaz zum Projekt Man muss es erlebt haben, um zu glauben: wir waren nie unter 90 Minuten unterwegs! Und das bedeutet, jeden Tag mindestens drei Stunden im Auto, ganz zu schweigen von den Benzinpreisen: meiner Rechnung nach kostet jede Fahrt mindestens $ 10, bei 12 Fahrten pro Woche!
Baustelle reiht sich an Baustelle; es gibt nur eine Möglichkeit vom Norden nach Mejicanos und ins Projekt zu gelangen. Auf der Strecke wird ein Großprojekt verwirklicht, mit einer riesigen Brücke und einer geplanten 6-spurigen Straße /drei in jede Richtung); die Behelfsbahnen sind nicht fest (loser Boden) und nach jedem starken Gewitter erlebt man seine wahren Wunder: man weiß nie vorher, wie der Straßenverlauf sein wird; wenn das Auto „aufsetzt“, steigt man aus, hebt es wieder auf die Fahrbahn und weiter geht’s!
Dazu kommt das Klima: Bei mindestens 30° und mehr Außentemperatur hat man die Wahl zwischen geöffnetem Fenster zu fahren (mit Dreck und Staub in der Luft) oder mit einer Klimaanlage; meine Stimme, mein Hals haben signalisiert: „Nicht mit mir!“
Situation in Mejicanos:
Für mich als Beifahrerin war es spannend zu erleben, wie die Autofahrer*innen auf die täglichen (neuen) Baustellen und Umleitungen reagierten: Mit großer Gelassenheit, weil man ja nichts ändern kann! Es gab Tage, da brauchten wir nahezu 60 Minuten, um aus dem Viertel Montreal (Stadtteil von Mejicanos) heraus zu kommen, stopp and go, im Schneckentempo.
Übrigens: eine Alternative zum Auto gibt es nicht, da der öffentliche Personennahverkehr so gut wie nicht mehr existiert. Von 10 Linien, die von Mikrobussen bedient wurden, gibt es noch zwei; der Grund ist, dass es keine Fahrer mehr gibt. Sie wurden verhaftet.
Lebenssituationen:
In den vielen Stunden, die wir im Stau auf der Autobahn zubrachten, ergaben sich gute Möglichkeiten für mich, um Eindrücke auszutauschen und nachzufragen, wenn ich bei Begegnungen nicht alles verstanden hatte. Ich hatte auch die Möglichkeit, zwei ehemalige Schülerinnen (2005 und 2012) und die Köchin aus Iberia (2005 bis 2015) mit ihrem Sohn zu treffen. Und der vorherige Bürgermeister von Mejicanos, (Simon Paz) besuchte uns im Projekt. Die Köchin feierte im Juni ihren 60. Geburtstag und lud das gesamte Team zu sich nach Hause ein, ein spannender Einblick in ihre Lebenssituation. Weniger erfreulich war ein Gespräch mit der Besitzerin des Hauses.
Hier folgen Eindrücke aus den Gesprächen.
ehemalige Schülerin:
Sie war Schülerin im ersten Projekt 2005; sie blickt voller Dankbarkeit auf die Zeit zurück: „Ich hatte einen Ort, wo ich jeden Tag hingehen und lernen konnte!“ Sie ist jetzt 27 Jahre alt, hat einen 10-jährigen Sohn und lebt mit ihm, ihren Großeltern und ihrem Bruder in San Salvador. Sie arbeitet in einem Supermarkt, 7 Tage die Woche und ernährt die ganze Familie. Der Vater des Kindes wollte nie etwas von seinem Kind wissen und beendete die Beziehung noch vor der Geburt.
eine Mitarbeiterin im Projekt
Alleinerziehend; die Tochter (26 J.) wohnt mit der Mutter in einer kleinen 2 -Zimmer Wohnung und studiert Zahnmedizin; sie ist sehr begabt und erhält ein Stipendium. Der Vater des Kindes hat nie etwas gezahlt. Die beiden leben in extrem bescheidenen Verhältnissen. Wenn sie Gäste einladen, bringen diese Geschirr mit, denn in ihrem Haushalt gibt es nur jeweils zwei Exemplare: angefangen vom Geschirr und Besteck, bis zu den Stühlen in der Küche. Sie haben keine Waschmaschine.
junge Frau 26 Jahre:
ehrenamtliche Englischlehrerin im Projekt. Sie arbeitet an einer amerikanischen Schule in San Salvador und spricht sehr gutes Englisch. Sie lebt bei ihren Großeltern. Ihre Mutter ist vor 20 Jahren in die USA gegangen und lebt dort illegal. Andrea hofft, jetzt ein Visum für die USA zu bekommen, um ihre Mutter zu treffen. Da Andrea eine feste Anstellung und relativ gut verdient, könnte es klappen. Den Vater kennt sie nicht.
eine andere Mitarbeiterin im Projekt
Sie hat zwei Söhne, 18 und 16 Jahre alt und lebt im Haus ihrer Schwiegereltern; der ältere Sohn hat autistische Merkmale und ist in einer Einrichtung. Er unterstützt manchmal Claudia bei der Arbeit. Der jüngere geht noch zur Schule. Der Vater der Kinder lebt mit einer anderen Frau zusammen, kümmert sich aber um die Söhne, wenn Claudia um Hilfe bittet. Der Tag beginnt für sie und ihre Söhne um 5h morgens. Um 5:30h machen sie sich auf den Weg zur Bushaltestelle (30‘), um gemeinsam zur Schule, zur pädagogischen Einrichtung des Älteren und ins Projekt El Izote zu kommen. Die Fahrt mit dem Bus dauert über eine Stunde, die ersten Kinder kommen bereits kurz nach 7h.
Und am Spätnachmittag geht es zurück. Oft sind Claudia und ihre Söhne erst um 19h zu Hause.
Der Samstag ist der Tag der Hausarbeit: Einkaufen, putzen kochen…
Neben dem stressigen Alltag schloss Claudia in diesem Sommer im Internet ihr Studium als Psychologin erfolgreich ab und wird im November exmatrikuliert. Herzlichen Glückwunsch!!!
ehemalige Schülerin in Iberia (2012 bis 2015)
Sie ist 23 Jahre alt, die Tochter ist 7 Jahre. Es gibt keinen Vater; Paty verdient sich das Geld als Straßenverkäuferin und ernährt mit ihrem Geld auch ihren Bruder. Er hat Tattoos und verlässt aus Angst, verhaftet zu werden die gemeinsame Wohnung nicht. Aber er kümmert sich um Paty’s Tochter.
ehemalige Köchin in Iberia (von 2010 bis 2015)
Alicia ist 34 Jahre alt, ihr Sohn ist 17. Er möchte unbedingt in die USA auswandern, weiß aber, dass es für ihn nur den illegalen Weg gibt. Sein Vater lebt in den USA (auch illegal). Ihm ist klar, dass er auf dem Weg der Illegalität zurück geschickt werden wird, aber er wird es ein zweites, drittes Mal versuchen. Die Mutter möchte nicht, dass er auch geht. Die Tochter wohnt schon in den USA.
Schwester einer Mitarbeiterin
Sie hat einen 9-jährigen Sohn und lebt nicht mit dem Vater des Kindes zusammen. Von ihm hat sie nie finanzielle Unterstützung erhalten. Theoretisch könnte man den Unterhalt einklagen, aber das würde Jahre dauern – Ausgang ungewiss.
Im Juni standen sie und das Kind plötzlich vor dem Haus der Mutter (das zu klein ist, um weitere Personen aufzunehmen) und wussten nicht wohin. Auf dem kleinen Grundstück wurde innerhalb von zwei Tagen ein kleines Haus aus Wellblech errichtet, in dem die beiden jetzt leben.
Junger Mann über die Situation der Straßenverkäufer*innen in der Innenstadt
„Wir leben in einer Diktatur. Ein Beispiel: Die Straßenverkäufer*innnen in der Innenstadt rund um die Kathedrale sind alle verschwunden. Die Straßen werden zu Prachtstraßen ausgebaut. Die Verkäufer*innen sagen, dies sei mit ihrem Einverständnis geschehen, was nicht stimmt. Sie wurden vertrieben - ohne Ersatz. Sie sagen nichts anderes, weil sie Angst haben, eingesperrt zu werden.“
eine Mitarbeiterin im Projekt (Köchin und Raumpflegerin)
Sie wurde 6o Jahre alt und nimmt jeden Tag zwei Stunden Weg hin ins Projekt und zwei Stunden zurück in Kauf, um an ihre Arbeitsstelle zu gelangen. Ihr Arbeitstag beginnt um 4h morgens und endet um 8h abends.
ehemaliger Bürgermeister von Mejicanos und Unterstützer des Projektes:
Er hatte bei der letzten Bürgermeisterwahl für die FLMN die meisten Stimmen erhalten, aber die Gruppierungen der rechten Parteien hatten gegen ihn ein Bündnis geschmiedet.
Inzwischen ist der „rechte“ Bürgermeister zurückgetreten, das Amt ist verwaist. Simon Paz kandidiert jetzt als Bürgermeister für die Großgemeinde San Salvador und Mejicanos.
Pizzabäcker in der Nähe des Projektes: Er hatte sein Geschäft über einen längeren Zeitraum geschlossen, weil die Maras so viel Schutzgeld verlangten, dass sich die Arbeit nicht rentierte. Seit einem Jahr hat er genügend Einkünfte für seine Familie.
Die politische Situation in El Salvador, nach dem von der Regierung verhängten Ausnahmezustand - aus der Sicht einiger Eltern
Nach einer kurzen Einleitung, was wir in Deutschland über den verhängten Ausnahmezustand und die Verhaftungen in El Salvador in unseren Zeitungen lesen, (über 60.000 Personen wurden seit März 2022 verhaftet und sind in Großgefängnissen interniert) bat ich die Eltern auf den Elternversammlungen um ihre Meinung dazu.
Sie haben diese anonym und schriftlich wiedergeben.
Meine Frage war: „Wie denken Sie über die Situation des Ausnahmezustandes in ihrem Land? Was ist gut daran, was schlecht?“
Hier einige Antworten:
gut, weil die im Gefängnis ja Verbrechen begangen haben; aber viele Kinder haben ihre Väter verloren, die Familien stehen ohne Unterstützung da, und das ist ungerecht, weil viele Unschuldige im Gefängnis sind; aber für unsere Sicherheit ist es gut.
Insgesamt muss ich sagen, dass das Gesetz mich nicht betrifft; ich bin noch nie für eine bestimmt Partei gewesen, aber er trägt etwas mehr zum Frieden bei, dass man – ohne Angst ausgeraubt zu werden – sich in bestimmten Orten bewegen kann.
Gut, weil man sich frei bewegen kann und seine Angehörigen ohne Angst besuchen kann; und es gibt weniger Toto, weniger Gewalt und Entführungen. Aber viele Kinder leiden unter der Abwesenheit der Väter (ich rede von denen, die im Gefängnis sind). Aber insgesamt finde ich das Gesetz gut.
Für mich ist das eine gute Entscheidung des Präsidenten; niemand vorher hatte solch eine Entscheidung gegen die Mörder getroffen; viele Menschen litten hier unter den Maras, auch meine Familie.
Für mich gut, weil die Kinder jetzt frei und alleine in die Schule gehen können
Für viele gut, aber viele Unschuldige sitzen im Gefängnis, und so viele Familien sind betroffen. Der Präsident hat das nur gemacht, um Wahlen zu gewinnen.
Nicht viel Positives, nur um das Image des Präsidenten aufzubessern, um Wahlen zu gewinnen;
Für mich persönlich gut, aber ich denke an die vielen Unschuldigen.
Sehr gut, weil es Vieles in unserem Land verbessert hat; darum soll es diese Regierung weiter geben, für eine gute Zukunft unserer Kinder und Enkel. Vorher lebten wir in Unsicherheit, in Angst vor Überfällen mit Streit und Toten. Jetzt können wir in Ruhe unsere Familien besuchen. Ich hoffe, diese Regierung bleibt immer.
Die anderen Regierungen haben nichts gemacht; dieser Präsident soll bleiben.
Für mich persönlich gut; vorher konnte ich nicht ohne Angst meiner Arbeit nachgehen (als Straßenverkäuferin),
Unsere Kinder wachsen gesund auf, ohne Druck und Angst, verhaftet zu werden, weil die, die solche Angst verbreitet haben, nicht mehr da sind.
Schlecht, weil es bedauerlicherweise viele Familien betrifft; heute gibt es so viele allein erziehende Mütter und viele Väter sind unschuldig.
Aus meiner Sicht eine große Hilfe, weil mein Haus in einer sehr gefährdeten Zone war. Einmal gab es eine sehr gefährliche Situation zwischen den pandilleros und meiner Tochter; ich möchte so etwas nicht noch einmal erleben. Ich mit der jetzigen Regierung sehr einverstanden. Ich möchte nie mehr daran denken müssen, weg zu gehen. Ich möchte in meinem Haus friedlich leben können.
Ich habe mich nie viel um Politik gekümmert, nie Partei ergriffen, aber insgesamt hat das Gesetz ein wenig mehr Frieden gebracht und man kann viele Ort ohne Angst besuchen, aber mehr betrifft mich nicht.
Es sind viele soziale Konflikte aus der Vergangenheit. Die Regierung hat sie gelöst, dabei viele Unschuldige verhaftet und die Menschenrechte verletzt.
Der Papa von Daniel ist seit einem Jahr unschuldig im Gefängnis, nur weil er tätowiert war, mit einem Tattoo vom Namen seines Sohnes. Wir haben nichts mehr von ihm gehört; wie geht es ihm? Wie lebt er?
Mir war es wichtig, diese Eindrücke fest zu halten. Sie geben ein wenig Einblick in den Alltag unserer Partner, Freunde, Eltern und Kinder in El Salvador.
Elisabeth Bentrup
Oberursel im Juli 2023